(OriginaI-) Interpretationshilfen zu Kurt Martis Gedicht „Lady Leda“
Anmerkung:
Der große Schweizer Lyriker Kurt Marti schrieb am 11.November 2000 einen Brief an die Schüler eines
Deutsch-Oberstufenkurses der Ernst-Göbel-Schule Höchst/Odenwaldkreis- vermittelt durch die renommierte
Zeitschrift „Das Gedicht“. Das Gedicht Kurt Martis „Lady Leda“ erschien wohl erstmals bei:
Anton G. Leitner (Herausgeber), Das Gedicht Nr. 8 „Erotik Special“ Lyrik, Anton G. Leitner Verlag,
Weßling 2000 (ISBN: 0933-1034)
An dieser Stelle folgt hier der Abdruck- auch zum Zwecke der literatur- bzw. lyrikwissenschaftlichen Forschung:
(Erstmals zur Verfügung gestellt am 22.August 2013.) Der Briefinhalt als auch die Anordnung – dazu noch
schreibmaschinenkonzipiert- wurden originalgetreu belassen, und zwar auch zusätzlich der in der Schweiz
(damals) üblichen Schreibweise in der Rechtschreibung.
Bern, 11.11.2000
Kurt Marti
Kuhnweg 2
CH-3006 Bern
Sehr geehrter Herr Nisch, liebe Gymnasiastinnen,
gestern erhielt ich via „Das Gedicht“ in Wessling/Mün-
chen Ihre Fragen zu meinem Gedicht“Lady Leda“ und beeile
mich, sie zu beantworten.
– Da ich mein Leben lang Gedichte schrieb, die alle
Aspekte des Daseins betreffen, waren darunter immer auch
und immer wieder erotische Gedichte. Ein Pfarrer ist
ja kein asexuelles Neutrum. Und immerhin ist eines der
berühmtesten erotischen Gedichte der Weltliteratur das
Hohe Lied in der Bibel.
– Nein, mit der Kriegszeit hat mein Gedicht nichts
zu tun. Als Schweizer erlebte ich den Krieg nur in Form
langer, zeitraubender Militärdienste, die zum Glück so
etwas wie Pikettdienste geblieben sind.
– Anfangs war Lady Lea weder eine Person noch eine
Phantasie, sondern wortgeborener Einfall. Lady Leda- das
tönt einfach gut! Der Einfall blieb haften, irgendwo im
Hinterkopf. Das Gedicht zu den beiden Wörtern entstand
erst viel später, und zwar durch weitere Worteinfälle. Selbst-
verständlich schimmern durch derartige Einfälle stets
auch eigene Gefühle, Erlebnisse, Phantasien durch.
– Seit der hellenistischen Zeit ist „Leda und der
Schwan“ ein beliebtes Motiv der bildenden Kunst und spä-
ter auch des gemalten Kitsches gewesen. Wer auch nur ei-
nige dieser Darstellungen kennt, weiss, woher die Wendung
„schwan im schoss“ kommt. Wer zudem die antike Sage kennt,
wonach es Zeus war, der in Schwanengestalt Leda verführte,
wird zu Recht vermuten, dass „schwan im schoss“ die ganze
Skala zärtlicher Verführung meint bis und mit dem Liebesakt.
– „fleur tet“: Wieder so ein Einfall! Er macht aus dem
deutschen Anglizismus „flirtet“ sozusagen zwei Gallizis-
men: „fleur“ = Blume, „tet“ = Kopf (korrekt: tete). Nach wie
vor ist Französisch ja wohl jene europäische Sprache, die
am lockersten und hübschesten von Liebe und Erotik spricht.
Und hier in Bern lebe ich nur wenige Kilometer weit ent-
fernt vom französischen Sprachgebiet der Westschweiz.
– „blutt“ ist das schweizerdeutsche, möglicherweise über-
haupt alemannische, vielleicht auch in Süddeutschland noch
gebräuchliche oder immerhin verständliche Wort für „nackt“,
das wohl eher nordischen Ursprungs ist. Allerdings weist-
nach Kluges Etymologischem Wörterbuch- auch „blutt“ nach
Skandinavien, im Schwedischen nämlich bedeutet „blott“ federlos, un-
bekleidet und man ahnt die Verwandtschaft mit dem deutschen
„bloss“, „Blösse“. Natürlich mache ich all diese Überlegun-
gen erst hinterher, eigentlich erst jetzt. Für das Gedicht
war seinerzeit einzig die Alliteration bl- auschlagge-
bend.
Habe ich damit die Fragen hinlänglich beantworten kön-
nen? Ich hoffe es. Jedenfalls war die Verfertigung des Gedichtes
für mich eine Art Sprachspass, der den erotischen Spass
heiter widerzuspiegeln versucht.
Im Übrigen staune ich- als alter Mann jetzt- nicht
schlecht über einen gymnasialen Deutsch-Kurs, der sich
mit erotischen Gedichten befasst. In meiner Schulzeit
wäre das undenkbar gewesen. Es gibt also doch so etwas
wie Fortschritt, und das ist ermutigend.
Seien Sie alle herzlich gegrüsst und bewünscht!
von Ihrem
Kurt Marti