Literarisches Briefdokument von Literaturpreisträgerin Elfriede Jelinek (vom 19.Dezember 1992)
An dieser Stelle sei der Brief von Elfriede Jelinek vom 19. Dezember 1992 vollständig dargelegt, denn er könnte für die Literaturwissenschaft doch von hohem Nutzen sein. Frau Jelinek möge mir diese Erstpublikation (Oktober 2004, d.Red.) verzeihen:
„Lieber Herr Nisch!
Ihr Brief hat wirklich einen Irrweg hinter sich, denn in Mürzzuschlag habe ich
nie gelebt, ich bin Wienerin und nur dort geboren, weil die Familie dort ein Fe-
rienhaus hat seit Generationen.
Zu Ihren Fragen: Ich interpretiere niemals meine Texte, das soll jeder und jede
selber tun. Ich will ja keine Gebrauchanweisung liefern.
Bei der Lust muß man sich klarmachen, dass das Entscheidende alles in der Spra-
che passiert, nicht im Inhalt. Solche Betriebe, wie ich sie beschrieben habe, die gibt
es in Österreich öfter, vor allem in den wirtschaftlichen Notstandsgebieten der Mur-
Mürzfurche (Mürzzuschlag!), wo eben Massenarbeitslosigkeit entweder droht oder
schon herrscht. Das ist doch gar nichts Besonderes. Und auch Verhältnisse wie das
Beschriebene sind keine Seltenheit. Die Frau war einmal Sekretärin ihres Mannes,
und sie will natürlich nicht den neuen Status, den sie sich mühsam errungen hat,
wieder verlieren. Deshalb will sie sich auch nicht scheiden lassen. Solche Ehen gibt
es viele. Das Ganze eben in der isolierten Situation der verindustrialisierten ländli-
chen Landschaft, wo es wenig Auswege gibt.
Es geht eben um Anti-Pornographie, es geht mir darum, die scheinbar grenzenlosen
Möglichkeiten zur Lust, wie die kommerzielle Pornographie sie beschreibt, zu reduzie-
ren auf unaufhörliche Benützung einer Frau durch einen Mann.
Natürlich auf die Spitze getrieben, es ist ja nur bedingt realistische Literatur, sondern
das Ganze wird auf die Spitze getrieben …sozusagen. Also übertrieben, wie es ja
Thomas Bernhard auch gemacht hat.
In der Hoffnung, etwas beigetragen zu haben und mit herzlichen Grüßen auch an
Ihre SchülerInnen
Elfriede Jelinek …“